Texts

Michael Stoeber: “Die Magie der Farbe Zwölf Absätze zum Werk von Petra Lemmerz”

aus dem Katalog zu “Schwebende Substanzen”

Anfänge Wie werden wir zu dem Menschen, der wir sind? Durch „race et milieu“ wie Hippolyte Taine meinte, der die Verfassung des Menschen durch sie gesetzmäßig bestimmt verstand? Als determiniert durch Vererbung, Milieu und historische Situation? Dann wäre immer noch zu fragen, welches Gewicht dabei den einzelnen Komponenten zukommt, die den Menschen formen. Picasso, dessen Vater Künstler und Lehrer an einer Kunstgewerbeschule in Malaga war, achtete sehr auf die malerische Ausbildung seines Sohnes. Mit dem Erfolg, dass Picasso später von sich sagte, er habe bereits mit acht Jahren wie Raffael zeichnen können, aber ein Leben lang gebraucht, um wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind. Petra Lemmerz hatte unter solch frühkindlicher Zurichtung nicht zu leiden, obwohl sie aus einer Familie kommt, in der es verschiedene Künstler gegeben hat. Ihr Großvater mütterlicherseits war ein regional bekannter süddeutscher Maler. Aber ihre Eltern waren beide Naturwissenschaftler, die Mutter Chemikerin, der Vater Diplomingenieur. Mit durchaus ausgeprägten Vorlieben für eine bestimmte Art von Kunst und Kultur. Lemmerz’ Ferien waren als Kind, wohin die Reise der Familie auch gehen mochte, immer davon bestimmt, wie sie sich lebhaft erinnert, sehenswerte Kirchen und Kathedralen, die am Wege lagen, zu besuchen und zu besichtigen und dafür gegebenenfalls häufig auch einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen. Aber weder Vater noch Mutter drängten sie oder ihren Bruder dazu, einen künstlerischen oder irgendeinen anderen, genau bestimmten Beruf zu ergreifen. Sie wuchsen in dieser Hinsicht in großer Freiheit auf. Eisern jedoch hielten die bürgerlichen Eltern daran fest, vor allem in den großen Irrungen und Wirrungen der Pubertät ihrer Kinder, dass sie auf jeden Fall das Abitur abzulegen hätten. Was beide auch taten. Und während Lemmerz’ Bruder Christian nach der Reifeprüfung unverzüglich ein Bildhauerstudium begann, beschloss sie, sich erst einmal mit einer Freundin ein ganzes Jahr lang die Welt anzusehen.

Neugier Ihre Reisen führen sie 1978/79 in die USA, nach Kanada und Guatemala. 1979/80 folgen Aufenthalte in Sri Lanka, Singapur, Malaysia und Thailand. Die Eindrücke, die Lemmerz auf diesen Reisen sammelt, der Kontakt mit anderen Menschen und Kulturen sind für ihre spätere Tätigkeit als Künstlerin nicht hoch genug einzuschätzen. Dasselbe lässt sich von ihren Semestern an verschiedenen Universitäten sagen, in denen sie sich mit Kunstgeschichte, Philosophie, Literatur und Völkerkunde beschäftigt. Sie ist in diesen Jahren, was sie heute immer noch ist: Eine große Neugierige, die unterschiedlichste Erfahrungen und Entdeckungen sowie neues Wissen geradezu aufsaugt. Als sie sich 1980 entschließt, dem Vorbild des Bruders folgend, Kunst zu studieren mit dem Ziel, Malerin zu werden, hat sie bereits so viele Bilder, Seh- und Denkerlebnisse in ihrem Kopf abgespeichert, dass man vermutet hätte, sie würden auf ihren Leinwänden in gegenständlicher Form wieder auftauchen. Irrtümlicher hätte eine solche Annahme nicht sein können. Jede historische Genealogie der Malerei missachtend, nimmt Lemmerz von Anfang an als Künstlerin handstreichartig die Abstraktion für sich in Anspruch und in Besitz. Wassily Kandinsky Unterscheidung vom „großen Konkreten“, worauf das „große Abstrakte“ folgt, ist für sie theoretisch interessant, praktisch hat das als Malerin keinerlei Relevanz für sie. Dennoch besitzen ihre Bilder von Anfang an klare Referenzen und erkennbare Prämissen. Und die sind sehr rational. Trotz des Primats der Farbe, das gleichfalls von Anfang an da ist, mit allen Implikationen des Schillernden und Vieldeutigen, die die Farbe besitzt. So operiert Lemmerz bei ihren Bildern, die in den Jahren 1990 – 1995 entstehen, häufig mit einem ungewöhnlichen Format, „63 cm x 226 cm“, auf das sie in ihren Titeln hinweist. Es orientiert sich am „Modulor“, einem von Le Corbusier (1887-1965) entwickelten Proportionsschema, das Maße des menschlichen Körpers auf die Architektur überträgt. In der Hoffnung, ihr mittels dieser Anthropometrie eine Harmonie zu geben, die der Architekt bei den Bauten seiner Zeitgenossen vermisste.

Antagonismus Mit diesem auf den menschlichen Maßen und dem goldenen Schnitt basierenden System macht auch Petra Lemmerz in ihrer Malerei gute Erfahrungen. Die Bilder, die sie zu dieser Zeit fertigt, interagieren wie Installationen immer mit dem Raum, in dem sie ausgestellt werden. Wenn sie sich, von der Wand her kommend, dabei partiell vor die Fenster oder über Eck schieben, werden sie selbst vom Eindruck her zu Raumelementen und Raumkörpern. Sie bekommen auf diese Weise eine ambivalente Anmutung, die sie im Sinne der Definition von Donald Judd zu „specific objects“ macht, die zwischen Bild und Plastik oszillieren. Diese antagonistische Spannung umfasst auch das Verhältnis von Form und Farbe, Bildgrund und Bildfigur. Ebenso die Komposition der Werke, die von Bild zu Bild unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Farbauftrag wechselt ab zwischen lasierenden und pastosen Partien und das Formvokabular zwischen eher konstruktiver und stärker organischer Abstraktion. Manchmal ist auch beides zugleich da, wenn wir, eingespannt in das oben genannte Bildformat, eine liegende Acht als graue Unendlichkeitsschleife auf schwarzem Grund sehen, wobei man urplötzlich den Eindruck bekommt, in die stechenden Augen eines maskierten Gesichts zu blicken. Aber so eine gegenständliche Anmutung ist eher selten, sehr subjektiv und wohl kaum intendiert. Sie gehört zum Kapital dieses meisterhaften Werkes, das im Sinne von Theodor W. Adorno über eine „nte“, eine offene Dimension verfügt, wie sie für gelungene Kunstwerke charakteristisch ist, die im besten Sinne mehrsprachig und multidimensional sind. Es sind Bilder dieses Kalibers und dieser Qualität, die zu der Zeit und den folgenden Jahren dafür sorgen, dass Petra Lemmerz mit renommierten Kunstpreisen ausgezeichnet wird und ihre Werke in bedeutende Sammlungen wandern. 1993 erhält die Künstlerin das Stipendium der Cité Internationale des Arts in Paris, 1995 das Jahresstipendium der Villa Massimo in Rom und in 2004 das Gaststipendium der Villa Romana in Florenz.

Serien Von Anfang an ist in der Kunst von Lemmerz die Konzeption angelegt, eher in Serien zu denken als in Einzelbildern. Träumen manche Maler von ultimativen Bildern träumen, so Lemmerz von ultimativen Serien. Die Serie ist ihre große Konfession. In ihr drückt sich ihr malerisches Bekenntnis aus. Das Einzelbild ist in ihrem Werk stets Teil eines größeren Ganzen. Was nicht heißt, dass es dadurch notwendig fragmentarisch wäre, wie verschiedene Autoren von der Malerei der Künstlerin zu wissen meinen. Es ist eher so, dass sich Lemmerz’ Werke für zweierlei Lesarten anbieten. Man kann sie, linguistisch gesprochen, sowohl auf der synchronen als auch auf der diachronen Ebene rezipieren. Natürlich als Serie, aber ebenso gut auch als Einzelbild. Das sind zwei unterschiedliche Haltungen, sich ihnen zu nähern; beide führen zu unterschiedlichen Einsichten. Einmal treten die generischen, ein anderes Mal die individuellen Qualitäten der Bilder stärker hervor. Mitte der 1990er Jahre kommt es dabei zu einem wichtigen Einschnitt. Nicht nur das Arbeiten in Bildserien vollzieht sich jetzt im Werk der Künstlerin in konsequenter und radikaler Ausschließlichkeit, auch die Technik der Verfertigung ihrer Bilder ändert sich. Immer öfter wandern sie von der Wand auf den Boden, um dort bearbeitet zu werden, wie es in der traditionellen chinesischen Tuschemalerei seit Jahrhunderten üblich ist. Der Wechsel des Blicks, fort von der Frontalität, forciert eine andere Perspektive. Sie ist noch weniger räumlich als bisher schon und gehorcht damit einem Diktum des amerikanischen Kritikers und Theoretikers Clement Greenberg, das dieser für die Maler der New York School verbindlich gemacht hat: „Make it flat“. Flach malen, dem Betrachter kein X für ein U vormachen, sondern ehrlich die medialen Bedingungen der Malerei sichtbar machen. Was quasi zu einer Signatur der Moderne geworden ist. Diesem Gebot folgt Petra Lemmerz umso lieber, als sie die Maler der New York School hoch schätzt, ohne irgendeinem von ihnen nachahmend nachzueifern. Auch keine kleine Leistung für eine junge Künstlerin!

Tropismen Die malerische Arbeit, bei der die Leinwand auf dem Boden liegt, vollzieht sich bei Lemmerz in singulärer Weise. Es versteht sich von selbst, dass das Malen mit Eitempera, das in ihren ersten Werken noch stattfand, hier keinen Platz mehr hat. Das dünnflüssige Acryl, das sie früher auch schon benutzt hat, ist jetzt ihr ausschließliches Malmedium. Begleitet vom Gebrauch von Terpentin, das ihr erlaubt, in ihre Farbflächen, modulierend, reduzierend und gestaltend einzugreifen. Die Arbeit mit dem Pinsel, dem Spachtel und der Rolle ist weiterhin wichtig, wird aber dominiert von Vorgängen, bei denen Lemmerz Farbe auf ihre Leinwände schüttet. Was sich anfangs bei ihr noch vorsichtig und behutsam, beinahe möchte man sagen meditativ vollzieht, und vom brachialen Malgestus eines Jackson Pollock weit entfernt ist. Den nannten seine Freunde wegen der Vehemenz, mit der er seine Farben auf die Leinwand goss, spritzte und schüttete, gerne neckend und anspielungsreich „Jack the Dripper“. Eine der ersten in dieser Manier von ihr ausgeführten Werkserien sind die beeindruckenden „Tropismen“ (1995/96). In dem ebenso eigenwilligen wie einprägsamen Titel klingt unverkennbar eine Reverenz an, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf Lemmerz’ Aufenthalt als Stipendiatin in Paris zurückgeht. Denn genau so wie ihre Bildserie heißt auch ein Klassiker der französischen Literatur von Nathalie Sarraute (1990-1999). In ihrem 1939 erstmalig erschienenen Buch, „Tropismes“, mit dem sie als Autorin eines Nouveau roman Aufsehen erregte und Karriere machte, hat sie Erzählungen versammelt, in denen sie feinste psychische Regungen subtil auf- und nachzeichnet. Die Außenwendung einer Innenwelt, die in diesem Buch zum literarischen Ereignis wird, musste als Anregung ganz einfach attraktiv sein für Petra Lemmerz, entspricht sie doch genau den Intentionen, die sie als Malerin verfolgt. Nicht das Sichtbare wiedergeben, wie es bei Paul Klee heißt, sondern Dinge sichtbar machen. Das ist auch der Urgrund ihrer abstrakten Werke.

Farbe In einer weiteren, 1996 entstandenen Bildserie, von der Künstlerin als „Entoptik“ bezeichnet, wird das vielleicht noch deutlicher. Denn der Begriff für ihren Werktitel entstammt der Farbenlehre Goethes und bezieht sich auf optische Wahrnehmungen, die im Auge des Betrachters selbst, nicht in der von ihm wahrgenommenen Außenwelt liegen. Thematisiert als Malerei wird von Lemmerz also etwas, was kein gegenständliches Substrat hat. Das ist in ihrer Serie der „Tritone“ (1997) anders. Die Tritonen, Begleiter und Diener des Meeresgottes Neptun, hat die Künstlerin nicht nur in den Bildern Arnold Böcklins gesehen, sondern auch bei ihrem Aufenthalt in der Villa Massimo kennengelernt. Dort dürften sie ihr bei näherer Inspektion der dort vorhandenen Sarkophage aufgefallen sein wie bei ihren Spaziergängen in Rom, wo man ihnen als Brunnenfiguren und Fresken häufig begegnen kann. So sehr sich Lemmerz’ Bilder unterscheiden, was ihre Herkunft und ihr Anregungspotenzial angeht, worauf ja auch die Titel der Werkserien verweisen, so ähnlich sind sie sich in der Ausführung. In der Manier ihrer Verfertigung. Nicht dagegen in ihrer Ausstrahlung. Da steht die Kraft und Magie der Farbe im Zentrum, die sie in immer anderer Weise beherrscht und Grund für das ist, was die Bilder im Betrachter evozieren. Mit dieser Qualität stehen sie im alten Renaissancestreit zwischen Venedig und Florenz, was Vorrang haben sollte in der Malerei, coloriti o disegno, Farbe oder Linie, klar auf Seiten der Venezianer, die für die Farbe votierten. Sie hatten Maler in Ihrer Stadt, nach denen Farben benannt worden waren. Tizianrot oder Veronesegrün. Die Welt durch das Spektrum der Farben zu sehen heißt, sie durch das Prisma des Gefühls zu sehen. Farbliche Vorlieben und Abneigungen des Menschen sind tief neuronal und kulturell kodiert. So führen die Allianzen und Kollisionen, die Petra Lemmerz mit ihren Koloriten in den Werken der „Tritone“-Serie schafft, etwa die zwischen einem flächig sich formierenden Pariser Gelb, das über einen blaugrauen Grund hinweg zu einem Russischrot strebt, bei den Betrachtern fast schon zwangsläufig zu vielstimmiger Resonanz.

Evokation Auch wenn die Farbe die unbestrittene Protagonistin in den Werken der Künstlerin ist, bildet sie regelmäßig Formen aus, die fremdartiger nicht sein könnten. Sie wachsen aus der Farbe heraus und kehren dabei einen Schaffensprozess um, in dem andere Maler einer im voraus fixierten Form Farbe geben, die sie oft genug der Wirklichkeit abgeschaut haben. Bei Lemmerz dagegen schmiegt sich die Form der Bewegung der Farbe an und überführt ihre koloristische Polyphonie in ontologische Unschärfe. Was genau wir auf ihren Bildern sehen, lässt sich schwer sagen. Wir können versuchen, die Farben und Formen zu beschreiben, die wir sehen. Da sie aber üblicherweise keine Äquivalente in der Wirklichkeit haben, müssen wir uns hinsichtlich ihrer Darstellung mit Assoziationen und Analogien begnügen. Was uns aber nicht schwerfällt, weil Lemmerz’ Bilder die Kraft haben, andere Bilder herbeizurufen. An einem Werk aus der Bildserie ihrer „Passagen“ (1998-2001) lässt sich das exemplarisch demonstrieren. Was wir sehen, sind viele übereinander liegende und miteinander verwobene, lasierend aufgetragene Farbschichten aus Ocker, Grau und Violett, die wir so noch nie gesehen haben. Sie bilden eine bewegte Fläche, als seien die Farben in ständiger Bewegung wie die Wellen eines Meeres. Aber natürlich sehen wir keine Meerlandschaft, auch keine Abstraktion davon, sondern ein völlig autonomes Werk. Wir könnten auf Grund der Farbigkeit des Bildes auch geneigt sein, an wandernde Sanddünen zu denken, zwischen denen immer wieder violette Amöben und felsgraue Lemminge auftauchen. Eine Art surrealer Anmutung. Bei der Wahrnehmung der Bilder von Petra Lemmerz begeben wir uns auf eine Reise ins Fantastische. Der Titel der Serie ist nicht nur trefflich gewählt, sondern geradezu paradigmatisch. Die Passage, die wir bei der Rezeption der Bilder vollziehen, ist reine Evokation. Eine Beschwörung, ein Herbeirufen. Vor uns hat die Malerin diese Passage für uns vollzogen sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption. Denn sie ist nicht allein die Schöpferin ihrer Werke, sondern auch deren erste Betrachterin.

Anregung Die Künstlerin berichtet, dass sie früher gerne durch das Mikroskop ihrer Mutter auf die darunter liegenden Exponate geschaut hat. Ein vertikaler Blick, der dem ähnelt, mit dem die Malerin heute auf ihre am Boden liegenden Leinwände schaut. Und auch wenn die von ihr geschaffenen Bilder in ihrer semantischen Opazität weit entfernt sind von der kristallinen Klarheit mikroskopischer Präzision, kommen sie doch keineswegs aus dem Nichts. Ex nihilo nihil fit. Petra Lemmerz ist eine begierige Leserin, die in einem Archiv Bilder und Texte aus den Bereichen Wissenschaft und Kultur sammelt, mit denen sie sich gedanklich auseinandergesetzt hat. Doch zu glauben, dass sie sich dabei vorgenommen hätte, sie als Malerin ins Bild zu setzen, wäre ein großer Irrtum. Sie bilden lediglich eine Art Substrat ihrer Kunst. Ein Boden, von dem aus sie agiert. Indes eher unbewusst als bewusst. Erst wenn sie als erste Betrachterin auf ihre Bilder schaut auf der Suche nach einer Benennung dessen, was sie geschaffen hat, tritt ins Bewusstsein, was sie mental und emotional beschäftigt. Die Titel ihrer großen Serien stellen sich stets post festum ein, nachdem der Malvorgang abgeschlossen ist. In ihnen geht es um Techniken der Bildwerdung und Verfertigung wie in den Werken der „Imagines“ (1999-2001) und „Interferenzen“ (2000/2001). Oder um naturwissenschaftliche Vorgänge und Prozesse, die farblich evoziert werden. Lemmerz’ Bilder der „Salinen“ (2003/2004) speichern die Hitze der mittelmeerischen Salzgewinnung und ihre „Meteoriten“ (2003-2004) das Verglühen der Himmelskörper bei ihrem Eintritt in die Erdatmosphäre. Ihre „Rete“-Werke (2005-2008) formieren sich zu Gebilden, die an soziale, neuronale oder Gefäßnetze denken lassen. Und ihre Bildserien zu „Keto“ (2012), „Gorgo“ (2015/2016) und „Sylphe“ (2016) zitieren Personal aus der griechischen Mythologie, das als bloße farbliche Anmutung vor Augen tritt. Als Transsubstantiation von entschieden säkularem Charakter.

Balance Dieses Kunststück vollbringt Petra Lemmerz auch in den Werkserien der letzten Jahre, die sie in der KWS in Einbeck zeigt. Ihre Werktitel nehmen, in chronologischer Auflistung, einmal mehr Anleihen bei den Formen ihrer Verfertigung und der griechischen Mythologie. Allerdings ist der malerische Gestus in ihnen noch selbstbezüglicher, unbedingter und expressiver als schon in früheren Werken. Eine ganz neue Serie nennt die Künstlerin „Cambiamenti“ (2021/2022). Dem Titel ist der Wechsel, der in den Bildern zum Ausdruck kommt, förmlich eingeschrieben. In einem der Gemälde blühen auf zitronengelbem Grund schwarzblaue Farblachen auf, die sich, von der rechten Bildseite kommend, offensiv in die Bildmitte schieben, wo sie von rokokohaften Farbwolken aus zartem Blau, nebeligem Orange und verletzlichem Rot aufgefangen werden. In einem anderen Werk nehmen die Farben unterschiedlich große, vertikale Bildpartien für sich in Anspruch. Dabei interagieren ein verhaltenes Ocker, ein helles Blau, ein dunkles Violett und ein mildes Gelb miteinander. Sie stehen dabei in prekärer und fragiler Balance zueinander, die jeden Augenblick aus dem Gleichgewicht zu geraten droht. Dass es nicht der Fall ist, verdankt sich den Eingriffen der Künstlerin. Noch stärker als in früheren Werken dominiert in diesen Bildserien der Vorgang der Farbschüttung. Dabei lenkt Lemmerz durch leichtes Heben und Senken der Leinwand den Fluss der Farbe. Die Vorstellungen der Künstlerin und die Eigenbewegung der Farbe bestimmen die Physiognomie der Bilder. Wille und Zufall, Kalkül und Koinzidenz verbinden sich miteinander. Dabei kann sich das malerische Geschehen in schneller Abfolge vollziehen als Aktion und Reaktion fast wie die Züge beim Blitzschach. Andererseits kann der Malprozess aber auch in zögerlicher, ja meditativer Langsamkeit stattfinden. Ein wenig so wie Heinrich von Kleist in einem berühmten Essay von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden geschrieben hat, ließe sich hier von der allmählichen Verfertigung des Bildes beim Malen sprechen.

Symbiose Der Vergleich drängt sich auch auf, wenn man Petra Lemmerz dabei zuhört, wie sie von der Schwierigkeit des Anfangs beim Malen spricht. Wie der Schreibende oft lange Zeit braucht, bis er seinen ersten Satz findet, so die Künstlerin, bevor sie sich für eine Farbe entschieden hat, für den Ort auf der Leinwand, wo sie sie hinsetzt und für das Medium, das sie dabei benutzt, Pinsel, Rolle oder Schüttung. Auch wenn diese Farbe später unter Umständen unter weiteren Farbschichten gänzlich verschwunden ist, ist sie von hervorragender Bedeutung für das Ganze des Bildes, folgen aus der erste Setzung doch alle weiteren. So viel zur immer noch weit verbreiteten Vorstellung einer vermeintlichen Beliebigkeit abstrakter Kunst. Wichtig ist für Lemmerz auch, beim Malen den ganzen Körper einzusetzen. Sie malt selten nur aus der Hand und dem Arm heraus. Ihr Malen ähnelt eher einem Tanzen, was sinnfälliger nicht sein könnte. Subjekt und Objekt, die Malerin und ihr Bild verschmelzen dabei in symbiotischer Weise. Das wird auch deutlich in Serien wie „Veil“ (2020/2021) und „Serpente“ (2021). Deren Titel markieren zugleich zusammen mit dem Thema ein malerisches Verfahren, wenn in ihnen von Schleier und Verschleierung die Rede ist oder von Schlangen. Grandios ist ein Gemälde aus der „Veil“-Serie, in dem die Farbströme sich fließend übereinanderlegen und dabei trotz dominierender Aquamarinblau- und Orangetöne zarte Hellblau- und Rottöne sichtbar werden lassen. Die Verknüpfung von Thema und Technik trifft noch stärker auf die Bildreihe der „Serpente“ zu. Das hervorstechende Merkmal der Schlangen ist die kriechende Fortbewegung der Tiere. An sie erinnern die wellen- und halbkreisförmigen Schwünge, die in den Gemälden der Werkserie auftauchen und, wie oben ausgeführt, darauf zurückzuführen sind, dass die Künstlerin nicht selten mit ihren Bildern tanzt. Zugleich führt die Betrachtung dieser Werke sie aber auch hin zu einer Figur aus der griechischen Mythologie. Zu Medusa, die, von der Göttin Athene verflucht, Schlangen als Haare trug und eine der drei Gorgonen war, die Lemmerz bereits in einer früheren Bilderreihe beschäftigt hat.

Mythologie Den Helden der Antike und der altägyptischen Geschichte sind auch drei weitere Werkserien aus den letzten Jahren gewidmet, die ebenfalls in der KWS zu sehen sind. Sie hätten nicht besser gewählt sein können. „Aiolos“ (2018) war ein Günstling der Götter und wurde von Zeus zum Herrscher über die Winde eingesetzt. In der Odyssee wird von ihm erzählt, dass er für Odysseus günstige Wind wehen ließ, damit dieser schnell Ithaka, die Heimat, erreichen konnte, bis seine Gefährten die Gebote des Aiolos missachteten und er das Schiff zurückwarf. Folgt man dem Narrativ, dann zeugen die dem Windgott gewidmeten Bilder von Lemmerz davon. Es gibt Partien, in denen die Farben leicht sind und leuchten, als glitten sie wie im Fluge über die Wellen. Andere dagegen sind schwer und lastend, als wollten sie sich keinen Millimeter von der Stelle bewegen. „Aton“ (2020), von dem in den Titeln ebenfalls die Rede ist, war im alten Ägypten zunächst nur ein Begriff für die Sonnenscheibe, bis er unter Echnaton zum alleinigen Gott ausgerufen wird. Er, der die Erde wärmt und nährt, gilt nun als Erschaffer der Welt. Was der Betrachter vor allem in den Bildern ausgedrückt findet, deren gelbe und rote Farblandschaften die Hitze der Sonne zu speichern scheinen. Am Komplexesten ist die Gestalt des „Prometheus“ (2020), der den Göttern das Feuer stahl, das er den Menschen brachte, und der als Urheber der menschlichen Zivilisation gilt. Zur Strafe wurde er auf Befehl des Zeus gefesselt und ins Gebirge gebracht, wo ein Adler jeden Tag von seiner Leber fraß, die sich immer wieder erneuerte, bis Herakles ihn befreite. Sein Schicksal hat zahlreiche Künstler und Dichter zu Werken inspiriert. Am bekanntesten ist sicher Johann Wolfgang von Goethes „Prometheus“-Gedicht. In der bildenden Kunst sei nur an den Feuer bringenden Prometheus von Piero di Cosimo erinnert und an den gefesselten Prometheus von Peter Paul Rubens. Petra Lemmerz nimmt sich des Themas in ihrer gewohnten Bildsprache an. Dabei ist auffällig, dass jedes Gemälde ihrer Werkreihe einen farblichen und formalen Zusammenprall inszeniert, in dem man den Konflikt von alter und neuer Ordnung im Prometheus-Mythos gespiegelt sehen mag.

Credo So spezifisch und singulär die vorgestellten Werkserien von Lemmerz sind, so sehr sind sie doch auch Teil einer großen Malsprache, die man in der Kunst als abstrakten Expressionismus bezeichnet. Was ihn auszeichnet, vor allem in der Spielart des Action Painting, ist, dass Emotion und Spontaneität wichtiger sind als Vernunft und Reglementierung. Wer in dieser Weise malt, agiert eher intuitiv als intellektuell. In den Jahren des kalten Krieges wanderte das Ideal des dabei seine eigenen Regeln findenden und setzenden Individuums von der Kunst in die Politik und wurde vom Westen als Gegenbild zu dem in sozialistischen Kollektiven sein Glück findenden Menschen propagiert. Eine solcher Malerei ist in hohem Maße individualistisch und selbstbestimmt, was auch dem Lebenscredo von Petra Lemmerz entspricht. Die anarchische Art, wie sich die Farbe auf ihren Bildern ihren eigenen Weg sucht, ließe sich durchaus als Metapher für die Eigenwilligkeit der Künstlerin lesen. Zudem hat ihre Kunst etwas eminent Spielerisches. Bei Friedrich Schiller lesen wir, dass der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt, und der Dichter weist dem Spiel in seinem Programm zur ästhetischen Erziehung des Menschen eine herausragende Rolle zu. Spielt der Mensch, erfährt er eine glückliche Synthese von Regeln und Freiheit. Alles gewinnt dabei einen leichten Ton, der zugleich von größtem Ernst ist. Vielleicht weil das Spiel seinen Ursprung in uralten religiösen Zeremonien und Praktiken hat. Schaut man Kindern beim Spielen zu, erkennt man, wie sie die Welt im Spiel nicht einfach nur benutzen, sondern sie neu erschaffen. Eine Welt der Fantasie und Vorstellungskraft. Man erlebt die Affinität zwischen Spiel und künstlerischer Erfahrung. Ein Spiel jenseits jeder Logik des Nutzens, genau wie bei einer Künstlerin oder einem Künstler. In eben dieser Weise schafft auch Petra Lemmerz ihre Bilder. Wenn sie malt, sieht und erlebt sie die Welt selbstvergessen in tieferer Weise. Für sie scheint das Malen ein Ritual zu sein, bei dem sie in fröhlicher Leidenschaft, die harte Schule des Lebens bewältigt, ohne dass ihr dabei die Liebe zum Leben verloren ginge. Das ist das ebenso überwältigende wie unwiderstehliche Narrativ ihrer Kunst.

 

Friedhelm Mennekes: “PETRA LEMMERZ, Schwebende Substanzen.”

Seit Beginn ihres künstlerischen Schaffens kennt diese Malerin aus Düsseldorf nur ein Thema: Malerei als Malerei, nichts als Malerei. Keine Abbildung, keine Darstellung, kein Inhalt. Ihre Bilder sind abstrakt und lassen sich in Form und Methode von den Gesetzen des Malens bestimmen, von Prozessen, Entwicklungen, Verläufen. Diese binden sich an physikalische Realitäten. Dazu gehören künstlerisches Handwerkzeug wie Stift und Griffel, Pinsel und Tube, Spritzen und Eimer; sie gestalten geologische Aggregatzustände – pulverisiert, körnig, versteinert oder flüssig. Es sind Alkohol und Farbe, Acryl und Pigment. Daraus entwickeln sich unter der kreativen Hand der Künstlerin immer neue Material- und Farbnuancen durch Kombinationen, Interaktionen, Kompositionen. Sie kreieren ein breites Feld ungewöhnlicher Erfindungen, eine dynamische Welt voller Bewegung, Verlauf und Entgrenzung.

Aus der Grundierung erheben sich Linie, Strich, Punkt und Komma; zentriert und umkreist, gerade, geschwungen, gewinkelt…, in Geraden und Winkeln, Aufschwung und Versinken, Kreise und Flecken. So laufen sie dahin, in Lachen gestaut in kleinen Rinnen, bis sie alle im Trockenen haften bleiben. Da stecken sie dann, gemischt, verwischt, überdeckt, durchlöchert… bis sich die Formen finden, die ihnen bestimmt sind, abstrakt und frei. Diese Bilder haben kein Ziel und kein Ende. Sie bilden nichts ab, sie bewegen sich – am Ende über sich hinaus. Doch zu ihrer Wirklichkeit gehört der Betrachter, der mit seinem Denken die intendierten und geladenen Energien zu benennen versucht. Aus der Dynamik erweckt er seine Bedeutungsebenen und transformiert sie, lebendig und kreativ über alles Vorgegebene hinaus.

Diese Malerei hat ihren Beginn in den frühen 80er Jahren. So nüchtern wie bedacht findet sie langsam zu ihrem Thema, den Farben. In vielfältigen Studien untersucht und entwickelt sie ihre Welt. Eine Farbe nach der anderen führt Petra Lemmerz in ihren Leinwänden vor, dabei entdeckt sie brillant deren Vielfalt und bringt sie ins Licht, in geballte Erscheinungen. Dann finden in den 90er Jahren subtile Differenzierungen zu neuen Formen und Verschlüsselungen. In das Objektive führt diese Künstlerin das Emotionale ein, Formen subjektiver Eindrücke in Entgrenzung und Weite, Traum und Sehnsucht, ohne je ins Romantische zu versinken. Zugleich überzieht sie geschwungene Linien und wechselwirkende Farbnachbarschaften in eine wachsende Vielfalt der Formen und baut über sie eine neue Einheit geballter Implosion auf. So entsteht auf der Leinwand aus dem Vielen eine Spannung im Ganzen, die sich schnell entladen kann, und zwar in einen angestauten Ausbruch in den Bildraum und die Umgebung des Bildes.

Ob diese Veränderungen im Augenblick explodieren, bleibt offen. Gleichwohl überlagern sie den Augenblick und das Umfeld mit ihrer Spannung, die bedrohlich wirkt und auf eine neue Freiheit aus ist. So bindet die Künstlerin die umgebenden Konstellationen in dieses Netz ein: die Lichtwinkel und Reflexionen, die Stimmungen und Perspektiven. Die Bildformen verlaufen jetzt nicht nur auf die Wand, sondern sie stehen mit ihren möglichen Veränderungen bedrohlich im Raum. Schon steht er irritierend vor den Augen des Betrachters mit einer bedeutungsvollen Veränderung. Vielleicht wollen die angestammten Querformate ihre Dominanz im Werk verlassen, ja gegeneinander aufstehen. Vielleicht fordern die hohen Räume des italienischen Schlosses mit ihren zehn Metern ihren Tribut. Jedenfalls verlassen die Bilder jetzt ihre angestammte Bodenhaftung und strecken sich die Formate jetzt auch in die Höhe. Schon das verändert das Werk insgesamt und strömt in völlig neue Konstellationen.

Diese Farben sitzen nach wie vor fest auf dunklem Bildgrund, den vielen Kampfjets auf einem Flugzeugträger vergleichbar. Dann heben sie kraftvoll ab und ziehen frei ins Weite, eine Farbe nach der anderen, erst im Red, Yellow and Blue, dann spannungsreich mit anderen vermischt, variiert und schließlich einfallsreich wie physikalisch konstruiert. Das Licht ruft sie zu sich empor. In nicht enden wollenden hervor Spuren füllen sie bestaunenswert den breiten Horizont mit Formen und Erscheinungen. Weiße Linien in bunten Wolken bringen das Licht in Bewegung und Tanz. Das ist sie, die Welt von Petra Lemmerz: ein beeindruckender, energiegeladener Kosmos.

Doch die Geschöpfe flüchten nicht ungebunden ins Freie. Sie sitzen fest im Netz aus Naturgesetzen und kosmologischen Gedanken. Einer davon ist die Schwerkraft. Buchstäblich liegen die Bildträger beim Malen vor ihr auf dem Boden. Im flachen Grund werden sie mit einer Grundierung ins Dunkle versetzt. Dann werden alle anderen Farben aus dem dunklen Grund hochgezogen. Vielschichtig, lebendig, in breiter Variation ungesehener Nuancen erstrecken sie sich in die Horizontale. Diese Bilder entstammen keiner aufrechten Staffelei, wackelig oder festgeschraubt. Am Boden werden sie gemischt und bleiben haften im horizontalen Format. Später dominieren sie in breiter Erstreckung den Horizont entlang. Ohnehin wäre ihre angestammte Hängung möglichst nah zu sich selbst, leicht über der Fußleiste. Und hängen sie höher, verweisen sie dennoch ins Weite. Bis zu zehn Meter lang können sie sein, bestens geeignet für Flure und Fluchten. Diese Malerei ist eine Kunst, die aus dem Boden kommt, wie vulkanische Eruptionen, die plötzlich in die Höhe schießen und dann auf die Erde fallen, strömen und auslaufen.

Auf ihrem Weg in die hohen Räume greifen sich die Bilder einen ‚schrägen‘, sich mehr und mehr verstörten Blick des Betrachters aus der Tiefe seines Bewusstseins, der gefangen wie aufmerksam vor ihnen steht. Zur Wirklichkeit dieser Bilderwelt gehören eben die Augen Anderer und ihre Anstrengung, mit den beladenen Energien umzugehen, und ihre Kräfte, sie dabei auch auf andere Bedeutungsebenen fragend zu transformieren. Er muss in diese Farben greifen, wie wenden im Bedenken und dann auf eigene Punkte frei lassen. So bleibt diese Malerei in seinem Griff und Blick, und die einzelnen Arbeiten, was sie sein sollen, „selbstbezügliche Beziehungsbilder“, wie Stefan Gronert sie einmal trefflich benannt hat. Zurrt der Betrachter sie aber begrifflich fest, wissen sie sich dem zu entwinden. Definiert sind sie tot. Auch das Denken muss vom Zweifel getrieben in Bewegung bleiben, über trial and error schwingen.

Oft werden die Bedeutungen dieser Bilder in die Vorstellungen von Ablagerungen von kosmischen Evolutionen geholt oder als stellarische Oberflächen interpretiert. Wieder andere vergleichen diese Weltentwürfe mit den Bildern am Rande flacher Salzseen. Geht man von hier aus einen Schritt weiter, wandeln sie sich zu kristallinen Letztformen, bevor sie in biomorphe Koexistenz transferieren. Oder es sind Tropismen, äußere Einwirkungen auf etwas Lebloses, das dadurch in eine Bewegung versetzt wird. Das Auf- und Abtauchen von Wasserpflanzen wie Seerosen oder Lotospflanzen durch Lichtveränderungen.

Solche Bedeutungsspiele kommen nicht von ungefähr. Sie lockern die Ratlosigkeit vor dem Bild, das allerdings ‚nur‘ Bild sein will. Gemeinsam ist diesen Verstehensversuchen der aufscheinende Aspekt der Dynamik im Werk von Petra Lemmerz. Verzichten wir daher weiter auf den Übergang in die Betrachtung einzelner Bilder und entwinden wir uns der staunenden Beschreibung und erregenden Erfahrung. Doch gehen wir der erregenden Erfahrung beim Anblick dieser unglaublich vielfältigen Malerei entlang, erleben wir sie so überraschend frisch, dann führt uns das Staunen zur Frage nach dem, ‚was sie zusammen hält‘, was ihren letzten Sinn ausmachen könnte. Hier führt uns ein Begriff weiter, der gerade in der Düsseldorfer Kunstwelt oft eine Erneuerung des Denkens auslöst. Das ist der philosophischen Begriff der Substanz. Joseph Beuys war hier der energetisch, denkerische Ursprung.

Zeit seines künstlerischen Schaffens hat sich Beuys mit dem Thema der Substanzen befasst. Der Vorgang, den dieser Begriff absteckt, hat mit Entwicklung und Evolution zu tun, ein Grundgedanke seiner Denk- und Formkraft. Im Gespräch mit Volker Harlan sagt er wörtlich; „meine Intention ist die Auseinandersetzung mit der Substanz, grundsätzlich“ Dieser Begriff hat mit der Wirksamkeit von Kräften zu tun, die es wahrzunehmen gelte, um sie dann auch gestalterisch prägen zu können. Beuys greift unter den Stichworten Materie, Form, Substanz, Potenz eine große Frage der Philosophie auf und erweist sich auch hier als sensibel, offen und empfänglich für erweiternde Fragestellungen in der Kunst.

Dem Wortsinn nach geht es bei der ‚Substanz‘ um das Bedenken des Darunterstehenden, d.h. dessen, was den immer wieder wechselnden Erscheinungen als das Bleibende vorausliegt. Kennzeichnend ist dabei die Frage nach dem, was letztlich seinen eigenen Stand in sich selbst hat, was sein ‚Sein‘ in sich und ‚für sich selbst‘ hat. Es ist die Frage nach dem, was allen Dingen innewohnt und worauf diese verweisen. Es ist jene Realität, die nicht mehr mit den Mitteln der Physik erreichbar ist, sondern nur noch gedanklich erfasst werden kann.

Die Substanz steht also bei Beuys nicht statisch, unbeweglich, unveränderbar im kosmischen Raum, sondern er begreift sie als das eigentliche movens, das entscheidend Bewegende; betrachtet er doch die Welt unter dem Aspekt ihrer Evolution. Die Kraft begegnet im Chaotischen, ihr entspricht der Mensch auf gedanklich-plastischer Ebene durch die Findung und Erfindung jeweils exakter Begriffe und Formen. Beuys weiß, dass das Erkenntnismäßige sich stark mit dem Willensmäßigen und mit dem Moralisch-Politischen berührt.

In dem bereits angesprochenem Gespräch mit Volker Harlan macht Joseph Beuys deutlich, dass sich in seinem Verständnis die Substanzen in eine übersinnliche, nicht mehr im Physischen vorhandene Substanz erstrecken, und fährt wörtlich fort: „Also der Zusammenhang mit dem geistigen Stoff gehört auch zur Substanzdiskussion, und nicht nur das, was man auf die Waage bringen kann und wo ein Gewicht den Zeigerausschlag erzielt, ist Substanz, es gehört dazu diese Diskussion vom sakramentalen Charakter bis hin zum Endstadium der Substanz, wo sie sich niedergeschlagen hat, etwa im Wachs, wo aber am Niederschlag sich noch der Prozess spürbar machen lässt, wenn man ihn in bestimmten Konstellationen anordnet oder bestimmte Experimente und Versuche damit macht.“

In vielen seiner Zeichnungen mit Bleistift, Blut oder brauner Farbe geht es Beuys experimentierend letztlich nicht um die Qualität der Farbe, sondern um ihre Substanz. Die Substanz will er erlebbar machen. Für ihn ist Farbe immer über alle Farbwerte hinaus eine Kraft, ja eine Substanz. Genau das wird erlebbar in der Farbwelt von Petra Lemmerz, aber weder abbildlich noch auch nur symbolisch. Es sind reale Prozesse, die bei ihr in farblichen Abstraktionen anklingen, und zwar real. Sie sind keine l’art pour l’art, sie sind reale Einfühlungen, die auf Anteilnahme, Eigenpotential und moralische Verantwortung abzielen. Es ist die Farbe und die ihr jeweils eigene Dynamik, die an keine Ende kommt, die sich im Betrachter ‚eindrückt‘ und sein Erleben in Gang setzt. Anteilnahme an einer Farbe, die mehr ist als sie selbst. Es ist ihre endlose Gerichtetheit, ihr ‚Hinaus‘ über alle physikalische Materialität, eben Substanz. In beiden verhandelt diese Künstlerin große, kosmische und evolutionäre Zusammenhänge.

Hier könnte man von einer Berührung zweier so unterschiedlicher Kunstwerke wie derer von Beuys und Lemmerz sprechen. Sie berühren sich im Farbkonzept. Für beide Künstler ist Farbe sowohl eine physikalische als auch künstlerische Potentialität. Beider Umgang mit Farbe und deren Untersuchungen gehen über die Materialität der Farben hinaus. Sie sind Träger von Energien, die kosmische Prozesse auslösen, eben Substanzen. Ihre malerischen Auseinandersetzungen mit den Farben sind für diese beiden Künstler aus Düsseldorf über alle Zeitbezüge hinaus lebendige, d.h. frei schwebende Substanzen.

Es ist schon angeklungen. Die Bilderwelt von Petra Lemmerz wird durch nichts anderes getragen als von der freien Abstraktion, kein Inhalt, kein Konzept, kein Auftrag. Das gilt für die Tropismen; das gilt am Ende aber auch vom Gedanken der ‚bewegten Substanz. Das Problem, diese Welt zu begreifen, ist ein Problem des Betrachters. Und der hat für sich zu lösen. Dabei muss er alle sogenannten Fangarme nutzen, wie sie die Künstlerin für ihn irritierend auslegt. Nur so kann er diese Welt in ihrer bestaunenswert vielfältigen und an Farben reichen Ästhetik in ein neues Verstehen transferieren.
Für Beuys besitzen diese allgemeinen, offenen, lebendigen, fließenden Substanzen Wärmecharakter. Sie verfügen über „soziale Wärme. Es ist wohl haargenau dasselbe, was die eigentliche Liebessubstanz. Sie hat sakramentalen Charakter.“

Friedhelm Mennekes

PETRA LEMMERZ, Eiskellerberg, Düsseldorf, 03.09.2009 “Schön – antiklassisch.”

In der Tiefsee tobt ein Krieg. Mit hochtechnisierten Waffen. Mancher Fisch lockt sein Opfer mit einer kleinen Laterne direkt ins eigene Maul, andere spritzen Tinte auf Verfolger. Und dann gibt es da Würmer, die Bomben werfen – grün leuchtende, genaugenommen. Sekundenlang schweben die Kugeln im Wasser, und wenn sie langsam wieder verblassen, ist ihr schlangenförmiger Geschossträger im Dunkeln verschwunden. Der Angreifer schaut ins Leere. Sieben neue Arten von Borstenwürmers konnten unlängst in den Tiefen des pazifischen Ozeans entdeckt werden. Die Tiere bilden zusammen eine eigene Gattung, die Swima. Fünf davon sind mit den Leuchtbomben ausgestattet. Sie setzen die Leuchtkugeln ein, um ihre Feinde abzulenken, während sie fliehen. Zwischen zwei – und dreitausend Metern Tiefe vor der amerikanischen Westküste und vor den Philippinen wurden die sonderbaren Würmer geortet. Interessant ist der Fund auch deshalb, weil man innerhalb kürzester Zeit gleich eine ganze Gruppe neuer Borstenwürmer gefunden hat. “Das zeigt”, so endet der kurze Bericht, “wie wenig bisher über die Tiefsee bekannt ist”.

Petra Lemmerz ist begeisterte Leserin solcher Forschungsberichte aus “Natur und Wissenschaft”, wie sie mir beim Atelierbesuch verriet – und mehr noch sieht sie sich mit Begeisterung die farbigen Bilder der Wissenschaft an, wie sie etwa die FAZ jeden Mittwoch veröffentlicht. Erstaunlich farbintensive Bilder aus der Tiefe des Pazifiks, Aufnahmen fluoreszierender Gehirnzellen, oder Megavergrösserungen menschlicher Blutbahnen und Blutkörperchen, mikroskopische Fotografien von Kleinstlebewesen oder Zellstrukturen. Aber darum ist Petra Lemmerz noch keine Tiefseemalerin und auch keine Malerin unseres zellulären Innenlebens. Sie sieht sich die Aufnahmen aus dem Bereich der avancierten Wissenschaften mit Vergnügen an und erkennt eine teils verblüffende Nachbarschaft zu ihren grossformatigen, farbenfrohen Gemälden – so wie sich vielleicht einst Picasso die afrikanischen Plastiken ansah, nachdem er in seine kubistische Phase eingetreten war. Er erkannte eine Verwandtschaft, aber sie waren weder sein Thema noch seine Vorlage.

Und die Farbnebel, Farbexplosionen, Farbkorpuskel und Farbräusche, die wir auf den Bildern von Petra Lemmerz erkennen, sind ja ganz eigene künstlerische Findungen und Erscheinungen, die denen der Natur eben nur verblüffend ähnlich sehen.

Klassik – Gegenklassik

Mich aber brachte der Hinweis auf die Unterwasserwelt des pazifischen Ozeans auf einen Begriff, der in einer anderen Tiefenforschung eine gewisse Rolle spielt, das “Ozeanische Gefühl”. Siegmund Freud benutzt den Begriff in seiner Schrift “Das Unbehagen in der Kultur” aus dem Jahr 1929. Der Aufsatz beginnt mit dem berühmten Satz: “Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen gemeinhin mit falschen Massstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen. Und doch ist man bei jedem solchen allgemeinen Urteil in Gefahr, die Buntheit der Menschenwelt und ihr seelischen Leben zu vergessen …”

Bald kommt Freud auf das Lustprinzip zu sprechen, von dem sich das Rechtsprinzip scheidet. Das “Ozeanische Gefühl” ist etwas Unbegrenztes, Schrankenloses, gleichsam Ozeanisches, eine Art allumfassendes Urgefühl jeder Kultur. Diese aber ist auf Triebverzicht aufgebaut. “Es ist unmöglich zu übersehen,”, so Freud, “in welchem Ausmass die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst was?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat”. Diese “Kulturversagung” beherrscht dass grosse Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen, sie ist die Ursache der Feindseligkeiten, … gegen die alle Kuturen zu kämpfen haben” (Freud) Es ist aber gar nicht so ungefährlich, einem Trieb die Befriedigung zu entziehen. Infolge des Kulturprozesses durch Triebsublimierung kommt nämlich die Angst ins Spiel, Gewissen, Schuldgefühl, Reue, Strafbedürfnis und endlich kommt es zu Aggression und Selbstvernichtung.

Ich will es mit meiner Freud-Vorlesung hier nicht zu weit treiben. Sie werden sich ohnehin schon längst fragen, was das alles mit den tiefen, herrlichen, bezaubernden wie befreienden, atemberaubend schönen, farbenprächtigen Bildern von Petra Lemmerz zu tun hat. In ihrer “Ozeanischen Malerei” kommt aber vielleicht eine Erinnerung an jenes Urgefühl zum Ausdruck, das vor allem kulturbedingten Triebverzicht herrschte. Die Menschen haben es in der Beherrschung der Natur so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leichter haben, einander bis auf den letzten Menschen auszurotten und die natürlichen Lebensgrundlagen zu vernichten. Daher ein gutes Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihrer Angststimmung – wie auch ihrer Sehnsucht nach einem paradisischen Gegenbild.

CARL-FRIEDRICH SCHRÖER.